Interviewtermin im „Bestial“. Ein schmaler Tresen. Das Licht strömt durch das Panoramafenster. Gleich davor sitzt ein Mann. Die Kleidung dunkel. Die langen Haare auch. Plötzlich senkt er den Kopf, öffnet den Mund – und stimmt an wie ein Opernsänger. Ivan Chertov. Bandchef der Death-Metal-Band Craving.
Metal ist so facettenreich
wie fast kein anderes Musikgenre. Und doch wird es allzu oft über einen Kamm
geschert. Zu laut. Zu schwarz. Zu düster. Vorurteile gehören dazu, meint
Chertov. „Metal erfordert einen gewissen Geduldsfaktor.“ Man könne nicht gleich
mit Slayer starten und Metal lieben. „Man muss sich für die Musik öffnen. Erst
dann kriegt man ein Gespür dafür, wieviel Arbeit und Energie in einem
Metal-Song – und vor allem in einer Metal-Stimme – stecken.“
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Akmeismus:
Russische Literaturströmung der Moderne zwischen 1910 und 1920. Initiiert unter anderem von Anna Achmatowa, Ehefrau von Nikolai Gumiljow. Er war der theoretische Kopf der Akmeisten-Gruppe, die sich um Gegenständlichkeit und Klarheit ihrer Darstellungen bemühten. Also: weg von komplizierter Mehrdeutigkeit.
Auf Texte, die sich der eigenen Literatur, der eigenen Wurzeln bedienen, stößt man im Metal häufig. Vor allem im Finnischen. „Bands wie Amorphis zum Beispiel übernehmen und übersetzen Texte aus ihrer Kultur oft. Das hat auch uns gereizt. Doch jeder kennt die Sagen der Wikinger, jeder kennt das Kalevala-Epos in der Szene. Aber so gut wie keiner kennt russische Dichter.“
Kalevala-Epos:
Das Kalevala ist ein im 19. Jahrhundert aus mündlichen Überlieferungen der finnischen Mythologie zusammengestelltes Epos und besteht aus über 22.000 Versen, die in fünfzig Gesängen vorgestellt werden.Der Titel ist abgeleitet von Kaleva, dem Namen des Urvaters des besungenen Helden.
Die zu führen sei immerhin wie eine Firma – „eine harte Herausforderung“, sagt Chertov und lacht. Man müsse mit vier verschiedenen Charakteren klar kommen, die Bandfinanzen managen, die Auftritte, die Produktion der Alben. Mit seinem abgeschlossenen Studium als Medientechniker kann Chertov die Band mittlerweile selber produzieren. Das mache vieles einfacher. „Früher mussten wir in externen Tonstudios aufnehmen und abmischen. Das kann bis zu 300 Euro kosten – pro Tag.“ Fehlen noch Foto-Shootings und die Artwork-Produktion. „Da ist man dann ganz schnell bei 5000 Euro pro Album.“
Viel Geld für eine Leidenschaft, die mit einem Tape begann. Der Vater eines Freundes schenkte es Chertov. Iron Maiden – „klassische Einstiegsdroge“. Die ersten „richtigen Metal-Alben“ folgten: „Imaginations from the Other Side“ von Blind Guardian und „Persistence of Time“ von Anthrax. „Nachhaltig prägend war aber ‚Jaktens Tid’, das zweite Album der finnischen Metal-Band Finntroll aus dem Jahr 2001“, sagt Chertov. Ausladende Kompositionen, von Offbeats geprägte Rhythmen und der Rückbezug zur finnischen Kultur durch das Integrieren der eintönig-gutturalen Joik-Gesänge der Samen – das gefiel. „Das war das erste Mal, dass ich die Kombination von Metal und anderen Musikstilen gehört habe“, sagt Chertov. „Finnische Folklore und Black Metal – gewöhnungsbedürftig zuerst, aber neu und frisch damals.“
Seine eigene Sparte schaffte
sich mit dem Album „Something Wild“ auch die finnische Band Children of Bodom.
Sie kombinierte 1997 Metal und Klassik. Schon der dritte Song wartet mit Bachs
„Intervention 13“ auf. Mozart folgt mit seiner „25. Sinfonie“ gleich im
Anschluss. Nicht jedermanns Sache, weiß Ivan Chertov. „Viele hören gerade beim
Thrash- oder Death-Metal nur das Laute, den Schreigesang. Dabei kann man Metal
auch leise hören.“
So wie den Song „Targaryen Wrath“ auf dem aktuellen Craving-Album „At Dawn“. Das Stück handelt von der „Game of Thrones“-Figur Daenerys Targaryen und entfaltet seine vertonte Sturmgewalt auch auf 40 Dezibel. Die Versuchung hochzudrehen ist allerdings groß: Savatage-Sechssaiter Chris Caffery hat sich hier mit einem Gastsolo verewigt. „Ich habe ihn einfach angeschrieben“, sagt Chertov. Die lebende Metal-Legende hat geantwortet und entstanden ist eine kraftvolle Komposition, die musikalisch aber auch Raum für Weite, Sehnsucht und Träumerei lässt.
Auf das „Wie“ komme es auch bei der Stimme an. „Die ist bei Metal eigentlich entscheidend“, sagt Chertov. „Ob Gitarristen, Bassisten oder Schlagzeuger – alle sind austauschbar. Der Sänger nicht.“ Deshalb lässt Chertov vor jedem Auftritt „die Stimme wandern“. Vom Bauch den Hals hinauf bis zwischen die Ohren. „Fühlt man die Knochen vibrieren, ist die Stimme warm.“ So lerne es auch der Opernsänger in der klassischen Gesangsausbildung.
Doch Metal ist auch eigen. Die Bandbreite an Gefühlen, die die Musik hervorruft, ist nicht für jeden nachvollziehbar – oder schlicht zu viel. „Metal ist wie ein Katalysator und für viele befreiend, die eine Wut in sich tragen. Auch ich kann mich mit oder durch diese Musik besser ausdrücken als mit Worten“, sagt Chertov. „Worte sind ersetzbar, Töne nicht.“
Dass Töne mehr transportieren als Worte, fand im Übrigen wohl auch das Marketing-Team von Samsung, als es die Coverversion von „Only Teardrops“ zum ersten Mal hörte. Was Emmelie De Forest beim Eurovision Song Contest 2013 noch unschuldig im weißen Flatterkleid vortrug, bekommt durch das Metal-Overlay von Craving eine ganz eigene Dynamik. Ein raffinierter Kontrast, der als Werbespot für das Galaxy S5 drei Wochen lang über Dänemarks Bildschirme flimmerte.